Üben für den Notfall

Das Kreißsaal-Simulationstraining in der Frauenklinik Holweide

Im Kreißsaal Nummer 5 der Frauenklinik Holweide herrscht höchste Konzentration. Der Zustand einer jungen Mutter verschlechtert sich zusehends. „Was ist passiert?“, fragt die leitende Hebamme Heidi Schweizer, die gerade von ihrer Kollegin in den Kreißsaal gerufen wurde. In knapp zehn Sekunden wird Heidi Schweizer auf den neuesten Stand gebracht: „Die Frau ist 30 Jahre und hat vor wenigen Minuten ihr zweites Kind zur Welt gebracht. Mutter und Kind sind gesund, keine Vorerkrankungen. Doch die Mutter blutet stark, circa 700 ml Blut hat sie in den vergangenen Minuten verloren.“ Diese zehn Sekunden der gemeinsamen Bestandsaufnahme sind wichtig, denn während dieser Zeit wird besprochen, welche Maßnahmen bereits eingeleitet wurden – und was in den kommenden zehn Minuten zu tun ist. Auf diese Weise bringt sich das gesamte Team im Kreißsaal auf denselben Stand und klärt die Zuständigkeiten. Das Prinzip nennt sich 10für10 und kommt aus dem CRM (Crisis Resource Management) – also zehn Sekunden Absprache für die Maßnahmen der nächsten zehn Minuten. Plötzlich ertönt eine Stimme aus dem Off:

Vielen Dank, das war’s! Die Übung ist vorbei. 

Alles nur Theater?Seit 2018 erfolgreicher Teil der Pflichtfortbildungen: das Simulationstraining Kreißsaal. ©Panousi
Was sich nach einem ernsten Notfall im Kreißsaal anhört, ist diesmal zum Glück keine Realität, denn die Hebammen, Gynäkologinnen und Gynäkologen der Frauenklinik Holweide sowie Anästhesiepflegende, Anästhesistinnen und Anästhesisten der Klinik für Anästhesiologie Holweide nehmen am sogenannten Simulationstraining Kreißsaal teil. Für diesen simulierten Notfall wurden den Teilnehmenden verschiedene Rollen zugewiesen, die sie unter echten Bedingungen auch wahrnehmen würden. Eine „echte“ Hebamme ist also auch Hebamme in der Trainingssituation.

 
Bei den Kliniken Köln ist das Simulationstraining Kreißsaal seit 2018 Teil der jährlichen Pflichtfortbildung. An zwei Tagen werden hier verschiedene Notfallszenarien im Kreißsaal geprobt und anschließend genau analysiert und besprochen. Die vermeintliche Schwangere ist Schauspielerin. Sie hat sich einen Bauchsimulator umgeschnallt und lässt gekonnt Kunstblut aus einem versteckt angebrachten Katheterbeutel sickern, um eine Blutung vorzutäuschen. Am Arm befindet sich ein fingierter venöser Zugang, über den das Kreißsaal-Team echte Medikamente verabreichen kann. Zusammen mit dem Leiter der Frauenklinik Prof. Werner Neuhaus und dem Chefarzt der Klinik für Anästhesiologie, Prof. Mark Gerbershagen, hat Heidi Schweizer die Szenarien zusammengestellt, die das Team gemeinsam übt. „Bei einem Notfall im Kreißsaal ist eine sehr gute Kommunikation zwischen allen Anwesenden das A und O“, betont Heidi. „Genau das proben wir in einem geschützten und gleichzeitig realistischen Umfeld. Der große Unterschied zu anderen Trainings ist, dass wir mit einer Schauspielerin in Interaktion sind, die so echt spielt, dass man davon überzeugt ist, es handelt sich um eine echte Geburt. Für uns als Team ist es daher sehr einfach, in die Situation hineinzufinden. Wir handeln in den Trainingsszenarien so, wie wir es unter realen Umständen auch tun würden.“

In der Schaltzentrale beobachten die Veranstalter während des simulierten Notfalls genau, wie das Team miteinander interagiert. ©PanousiTechnische Unterstützung: Kameras, Kabel und Mikrofone ermöglichen eine detaillierte Analyse
Für die reibungslose Umsetzung bedarf es einiger Vorbereitung: Die Firma InPASS Patientensicherheit, die das Training veranstaltet, verkabelt den Kreißsaal vorab. Es werden drei Kameras aufgehängt und der Raum wird mit mehreren Mikrofonen ausgestattet; fünf Fälle werden insgesamt durchgespielt. Die Kabel laufen in der Schaltzentrale zusammen; dort halten sich auch die Veranstalter während der Übung auf und beobachten genau, wie das Team während des simulierten Notfalls miteinander interagiert. Wenn das Team einmal nicht weiterweiß oder Fragen aufkommen, geben die Veranstalter Hinweise, die per Lautsprecher in den Kreißsaal übertragen werden. Ist der simulierte Notfall beendet, treten die Veranstalter in einen direkten Dialog mit den Personen, die an der Übung beteiligt waren. Die weiteren Teammitglieder hören in einem separaten Raum per Videoübertragung zu. Prof. Mark Gerbershagen, der genauso wie seine Teamkolleginnen und –kollegen an der jährlichen Pflichtfortbildung teilgenommen hat, ist begeistert von dem Training: „Hervorzuheben ist die sehr wertschätzende und konstruktive Art und Weise, wie die Nachbesprechung abläuft. Durch eine gezielte Fragetechnik fällt den Teilnehmenden selbst auf, an welchen Stellen noch Optimierungsbedarf besteht. Dadurch wird ein tiefes Verständnis geschult. Dies ist enorm wichtig, denn es ist ein großer Unterschied, ob ich jemanden schlicht auf mögliche Fehler aufmerksam mache oder ob ich die Person wertschätze und sie im gemeinsamen Austausch selbst zu einer Erkenntnis kommt, die sie auch wirklich versteht und daher anwenden kann und wird. Der Lerneffekt tritt dabei auch für diejenigen auf, die dem konstruktiven Austausch zuhören.“ 

Für eine klare Kommunikation im Notfall: die CRM-Leitsätze
Bevor es losgeht, gibt es für alle Teilnehmenden eine Einführung in die Leitsätze des CRM (Crisis Resource Management), das seinen Ursprung in der Luftfahrt hat. Fester Bestandteil der Leitsätze ist eine klare und effektive Kommunikation. „Piloten müssen regelmäßig in den Flugsimulator, um ihre Flugerlaubnis zu behalten – für Krankenhäuser hingegen sind Simulationstrainings keine Pflicht. Wir als Kliniken Köln führen das Simulationstraining Kreißsaal seit 2018 durch und finden es wichtig, Notfälle unter realistischen Bedingungen zu üben – so sind wir für den Fall der Fälle gewappnet und üben nicht erst am lebenden Menschen“, fasst Heidi Schweizer zusammen.

Am Arm der Schauspielerin befindet sich ein fingierter venöser Zugang, über den das Kreißsaal-Team echte Medikamente verabreichen kann. ©PanousiUnterschiedliche Notfälle im Kreißsaal 
Die fünf Notfälle bauen aufeinander auf und sind immer extremer – bis hin zur Reanimation der Mutter. Ein simulierter Notfall dauert im Schnitt zwischen 20 und 30 Minuten – inklusive der Entwicklung bis hin zur Notfallsituation. „Die jeweilige Simulation kommt sehr nah an eine echte Geburt heran, wobei wir den Geburtsvorgang an sich nicht proben. Es geht mehr um Blutungen (Atonie), einen Schock oder eklamptische Anfälle (Krämpfe) unter der Geburt. Auch eine Schulterdystokie des Kindes (Kopf des Kindes ist geboren aber die Schulter steckt fest) oder schlechte Herztöne des Neugeborenen, die einen Notkaiserschnitt erfordern, spielen wir durch. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf den Maßnahmen, die eingeleitet werden, bevor es zum eigentlichen Kaiserschnitt bzw. Geburt kommt“, betont Heidi Schweizer. „Der schlimmste Notfall, den wir simulieren, ist der eines allergischen Schocks der Mutter. In diesem Fall muss die Frau reanimiert werden. Dies trainieren wir an einer Puppe, die kurzfristig den Platz der Schauspielerin einnimmt.“

Training in den eigenen Räumlichkeiten
Ein großer Vorteil des Simulationstrainings ist, dass sich das Team in den eigenen Räumlichkeiten und nicht in einer fremden Umgebung befindet. Auf diese Weise können Abläufe bereits unmittelbar nach dem Training optimiert werden. Ein Beispiel sind Infusionen – diese befinden sich jetzt zusätzlich zum Stützpunkt auch griffbereit im Kreißsaal. Aus dem detaillierten Nachbericht können weitere Maßnahmen abgeleitet werden. 
Prof. Werner Neuhaus sieht in dem Training einen großen Vorteil: „Es ist deutlich erkennbar, wie die Teams im Laufe des Trainings von Notfall zu Notfall immer souveräner werden. Neben fachlicher Kompetenz gibt es noch andere Weichen, die gegeben sein müssen, um Mutter und Kind sicher durch die Geburt zu bringen: Deutliche Kommunikation – innerhalb des Teams und auch mit der Mutter -  sowie möglichst flache Hierarchien und klare Zuständigkeiten im Team. Damit dieses Zusammenspiel auch weiterhin so gut gelingt, nehmen wir als eine Maßnahme regelmäßig am Simulationstraining teil. Viel näher als an der Realität können wir nicht üben. Das begeisterte Feedback der Teilnehmenden zeigt uns, dass wir auf dem richtigen Weg sind.“ 
Heidi Schweizer, die selbst Instruktor für Simulationstraining ist, weiß: Kontinuierliche Übung macht den Meister. Deswegen baut sie in den Alltag zwischendurch kleine 1:1-Übungseinheiten mit einzelnen Teammitgliedern ein – natürlich nur, wenn nicht viel los ist. Dabei geht es nicht immer um den riesigen Notfall. Wichtig ist, in Übung zu bleiben. 

Die detaillierte Analyse und gemeinsame Besprechung der Notfallsituation sind wichtige Bestandteile des Trainings. ©PanousiEine Bereicherung für das gesamte Kreißsaal-Team
Die Meinung ist einhellig: Eine gelungene Kommunikation ist im Notfall ungleich wichtiger. Im Simulationstraining Kreißsaal wird genau das geübt – es ist daher sinnvoll und für alle Beteiligten eine Bereicherung. Heidi Schweizer beschreibt das Training als Kommunikationstraining am Beispiel „Notfall“, von dem alle profitieren: „Es wird das gegenseitige Verständnis der unterschiedlichen Berufsgruppen – z.B. zwischen Hebammen, Anästhesisten und Pflegenden gefördert. Man lernt die Rolle des jeweils anderen besser kennen und entwickelt ein ausgeprägtes Verständnis für die verschiedenen Zuständigkeiten und Personen im Kreißsaal. Hinzu kommt ein verbessertes Kommunikationsverhalten. Im Ergebnis hat man keine Angst mehr vor einem Notfall, weil man noch besser weiß, was zu tun ist. Diese Souveränität ist es, die im Kreißsaal einen entscheidenden Unterschied machen kann – nicht nur im Notfall“, so Heidi Schweizer. 

(cb)